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Achtsamkeit Teil 3: Interview mit Ulrike Reiche und Janina Bäder

Geschrieben von Johannes Muck | Dienstag, 26.05.2020

Um unsere Serie über Achtsamkeit möglichst praxisnah abzuschließen, haben wir in einem ausführlichen Interview zwei Frauen, die sowohl Erfahrung im stressigen Berufsleben in großen Konzernen als auch mit den Bereichen Achtsamkeit und Meditation haben, zu dem Thema befragt.

Ulrike Reiche ist eine Ex-Bänkerin und Unternehmensanalystin und inzwischen eine gefragte Keynote Speakerin, Coach, Yogalehrerin und vielfache Buchautorin. Seit dem Jahr 2004 begleitet sie Führungskräfte und Unternehmer auf ihrem Erfolgsweg. Sie lebt und arbeitet nach dem Motto: „Entschleunigen: mehr erreichen!“ Ihr Programm namens „SWSL Slow Work | Slow Life“ mündete in einem gleichnamigen Buch und beschäftigt sich mit Leadership, flexiblen Arbeitskonzepten und beruflichem Gesundheitsmanagement. ulrikereiche.de

 

Janina Bäders Werdegang verlief von einem internationalen BWL-Studium über 20 Jahre Berufserfahrung in Industrie und strategischer Unternehmensberatung bis hin zu Ausbildungen in der Organisations-Entwicklung, im Systematischen Coaching, in der Telefonseelsorge sowie im Kundalini-Yoga. Bäder arbeitete sowohl mal als Yoga-Lehrerin auf Bali, mal als Sterbe/Pflege-Begleiterin in Holland oder in spiritueller Lebensgemeinschaft in der Schweiz. janinabaeder.de

 

Interview

Hat das Thema Achtsamkeit, Ihrer Meinung nach, in der Gesellschaft in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen oder verloren und wo sehen Sie die Gründe für Ihre Beobachtung?

Ulrike Reiche: Achtsamkeitsorientierte Methoden sind heutzutage zweifelsfrei akzeptierter als noch vor Jahren und inzwischen weit verbreitet: Nach Schätzungen praktizieren in Deutschland mehrere Millionen Menschen regelmäßig Meditation oder ähnliches. Von der Meditation-App über den Yoga-Kurs am Arbeitsplatz bis hin zu Achtsamkeitsseminaren für Manager gibt es inzwischen eine Bandbreite an Angeboten – für jeden ist etwas dabei.

Nach meiner Beobachtung hat das Bewusstsein für die psychomentale Belastung sowie Psychosomatik bei vielen Menschen zugenommen. Zudem ist ein gesunder Lifestyle hipp. Die stressmindernde Wirkung von Yoga und Achtsamkeit ist zwischenzeitlich wissenschaftlich vielfach belegt und unumstritten. Damit sind achtsamkeitsorientierte Techniken aus der spirituellen Eso-Ecke herausgerückt, in der sie noch vor einigen Jahren verortet wurden. Außerdem haben sich auch die Anbieter weiterentwickelt und differenzierte Maßnahmen entwickelt, so dass jede Person ein für sie passendes Angebot finden kann.

 

Janina Bäder: Beides! Die Achtsamkeit ist nicht mehr automatisch in unserem Alltag integriert. Ein Beispiel: Dadurch, dass jetzt alles automatisiert ist, sind unsere Handarbeiten flöten gegangen. Früher konnte man achtsam beim Wäschewaschen mit der Hand seinen Gedanken nachgehen oder beim Erbsen pulen in der Küche, und heutzutage mache ich Klick und schalte Spülmaschine und Waschmaschine an oder kaufe mir eine Dose Erbsen im Supermarkt. Wir gehen nicht mehr, sondern fahren Auto und telefonieren dabei womöglich noch – in dieser Hinsicht haben wir die Achtsamkeit verloren.

Auf der anderen Seite haben wir an Achtsamkeit gewonnen, weil jeder darüber spricht, die Notwendigkeit wieder spürbar ist. Ich könnte mir vorstellen, dass der Begriff in den 50er Jahren kaum eine Rolle gespielt hat. Durch die vielen Möglichkeiten sind wir aber kaum mehr im Hier und Jetzt, immer schon bei der nächsten Aufgabe, weil ständig so viel los ist. Und dann kommen noch die technischen Spielzeuge wie Handys und Tablets hinzu, die uns die ganze Zeit ablenken. Da viele Menschen wieder dieses Hier und Jetzt erleben wollen, ist der Bedarf an Auszeiten und dem Wiederfinden einer Achtsamkeit – auch für sich selbst – neu aufgeflammt.

Eine andere Beobachtung: Das Thema Achtsamkeit hat heute genauso mehr Bedeutung wie das Thema körperliche Fitness. Beides war früher viel mehr im Alltag, im Leben integriert und hatte keine herausragende Stellung. Heute müssen wir uns eigens darum kümmern, weil beides aus dem Alltag oft verschwunden ist.

 

Gerade in Zeiten von Online-Mobbing und bei den teilweise ausufernden Anfeindungen im Netz, wo die Menschen oft jeden Filter vermissen lassen: Haben Sie Vorschläge, Richtlinien, so etwas wie Guidelines, die Sie womöglich auch Ihren Kunden für ein besseres Miteinander empfehlen?

Ulrike Reiche: Ich sehe zwei Ansatzpunkte: der eine liegt bei der betroffenen Person, die den Umgang mit derartigen Angriffen selbst regulieren kann. Wichtig finde ich, sich bewusst zu machen, dass es immer mehrere Möglichkeiten gibt, mit solchen Situationen umzugehen. Es hilft oft, den eigenen Handlungsspielraum herauszufinden. Dazu ist es hilfreich, nicht sofort in eine emotional aufgeladene Reaktion zu gehen, sondern sich Zeit zu nehmen, um die Situation einzuschätzen und die Auswirkungen auf sich selbst wahrzunehmen. Hierfür kann eine meditative Praxis sehr hilfreich sein. Auf der Basis einer inneren Klarheit lässt sich ergründen, was man dann letztlich tut oder lässt. Je nach Sachlage, Situation und eigener Verfassung kann das sehr unterschiedlich sein.

Ein weiterer, wichtiger Punkt ist, dass man genau hinschauen muss. Online wird vieles gesagt bzw. geschrieben, was im direkten Kontakt als gewalttätig und möglicherweise strafbar gilt. Die Verantwortung dafür liegt bei denjenigen, die verbal angreifen. Es kann nicht Aufgabe der betroffenen Einzelperson sein, die Auswirkungen eines solchen Fehlverhaltens von anderen bei sich selbst „wegzumeditieren“. Es darf und muss klar benannt und gegebenenfalls bei den zuständigen Stellen angezeigt werden, um Unterstützung zu erhalten.

 

Janina Bäder: Ich habe das gerade in der Krise hier und da selber erfahren, wie gereizt Menschen bei heiklen Diskussionen reagieren und würde immer wieder dafür plädieren, sachlich zu argumentieren, Emotionen soweit es geht zurückzuschrauben. Eine andere Möglichkeit ist, wie es auch beim Yoga praktiziert wird, den Geist neutral zu halten, nicht zu werten, weder zu positiv noch zu negativ. Mitgefühl ist ebenfalls immer ein gutes Stichwort, vielleicht so etwas wie die große Schwester der Achtsamkeit. Es mag oftmals schwerfallen, aber es nützt schon viel, den anderen nicht immer zu bewerten, sondern sich eher mitfühlend zu fragen: Was könnte derjenige erlebt haben, dass ihn oder sie zu dieser mir nicht genehmen oder nachvollziehbaren Antwort oder Aussage bringt?

Geht es um Dinge wie Mobbing oder krasse und offensichtliche Verstöße gegen die Etikette, hilft es auch manchmal loszulassen, zu realisieren: Ich kann den anderen nicht verändern. Ein beeindruckendes Beispiel ist das, was der Dalai Lama sagte, als er auf das Unrecht angesprochen wurde, das die Chinesen dem tibetanischen Volk angetan haben und wieso er keinen Hass empfinden würde. Er meinte, sinngemäß: Die Chinesen haben uns alles genommen, unsere Heimat, unsere Häuser, alles, da lasse ich mir nicht auch noch von ihnen meinen inneren Frieden nehmen.

Noch ein beeindruckendes Extrembeispiel ist das eines südafrikanischen Ehepaars, dessen Sohn von einem Gang-Mitglied aus den Slums ausgeraubt und ermordet wurde. Ihre Reaktion war nicht etwa Hass, sondern die Gründung einer Stiftung, die es Kindern aus jenen Slums ermöglicht, eine gute Bildung zu erhalten. Sie haben sich mit den Gründen für den sinnlosen Mord auseinandergesetzt und die richtigen Schlüsse daraus gezogen. Wie gesagt, ein Extrembeispiel, aber sehr lehrreich.

 

Die Beobachtung lehrt, dass der Fisch sowohl in der Wirtschaft als auch in Schulen oder in der Familie oft vom Kopf her stinkt. Würden Sie sagen, dass bei Führungskräften oder Familienoberhäuptern andere Methoden angewandt werden müssen, um ein Mehr an Achtsamkeit zu erzielen und wenn ja, welche?

Ulrike Reiche: Achtsamkeitsorientierte Methoden helfen zweifellos dabei, die Selbstwahrnehmung zu schulen und feinfühliger im Umgang mit sich selbst zu werden. Damit dies in eine Persönlichkeitsentwicklung mündet, also zu einer mehr den Menschen zugewandten Haltung und einer entsprechenden Verhaltensanpassung führt, ist jedoch über die reine Praxis hinaus auch eine Reflexion der Meditationserfahrung nötig. Ohne diese blieben Achtsamkeitsorientierte Methoden nichts anderes als eine Technik zum Stressabbau auf körperlicher Ebene. Ich habe dazu einen eigenen Coaching-Ansatz entwickelt, der sich kurz in diesen Schritten zusammenfassen lässt: Training – Meditation – Reflexion – Fazit – Konsequenz.

 

Janina Bäder: Generell würde ich sagen, dass man bei niemandem etwas anwenden „muss“! Jeder Mensch kann und sollte sein, wie er oder sie das will. Es geht eher darum: Welche Reaktion bekomme ich auf meine Aktion. Wenn Eltern beim Abendessen selbst dauernd auf das Handy schauen oder den Fernseher laufen lassen, dann werden sie logischerweise erleben, wie die Kinder entsprechend reagieren, wenn sie etwas von ihnen wollen. Daher ist es vollkommen klar, dass ein achtsames Vorleben sowohl in Unternehmen als auch in der Familie essentiell wichtig ist.

Das war einer der Gründe, weswegen ich meinen Yoga-Kundenkreis auf Schwangere erweitert habe. Weil ich genau den werdenden Müttern etwas Achtsamkeit mitgeben möchte, damit sie es in ihren Alltag integrieren können. Es gibt auch sonst wunderbare Beispiele für Familien-Yoga oder Kinder-Yoga, so dass die ganze Familie zusammen Yoga machen und bereits auf diese Weise Achtsamkeit praktizieren kann.

Auf den Alltag bezogen würde ich sagen, wenn man es als Familie schafft, zweimal am Tag gemeinsam ohne Medienkonsum zu essen und dabei miteinander zu reden und einander zuzuhören, ist schon viel erreicht. Da braucht es dann keine besonderen Methoden mehr. Manchmal reicht schon eine gewisse Struktur im Tagesablauf. Das bringt bereits Ruhe und die nötige Unterstützung für die benötigte Achtsamkeit. Im Grunde braucht es dafür keine neuen Methoden, sondern eher gesunden Menschenverstand.

 

Beobachtet man die Lager im amerikanischen Wahlkampf, aber auch im direkten Umfeld die Auseinandersetzungen um den Umgang mit dem Corona-Virus, verliert man oft den Glauben daran, dass es um das Thema Achtsamkeit gut bestellt ist. Die Frage, die sich viele stellen: Wie gehe ich mit jemandem um, der diametral entgegengesetzt funktioniert und agiert wie man selbst? Ignorieren, möglichst wenig Kontakt, erhöhte Achtsamkeit oder größtmögliche Neutralität? Haben Sie Empfehlungen für den Umgang, das Zusammenleben und -arbeiten mit derlei Personen?

Ulrike Reiche: Dies ist eine Frage, die mich selbst auch immer wieder beschäftigt. Nach meiner Erfahrung gibt es kein Patentrezept. Letztlich ist das auch immer abhängig von der Art der Beziehung, die wir zu der jeweiligen Person haben. Der in diesem Zusammenhang oft bemühte Begriff der „Neutralität“ wird häufig missverstanden. Neutral zu sein, heißt nicht, nicht zu (re)agieren oder keinerlei Emotionen zu zeigen. Es bedeutet vielmehr, zuvor abgewogen zu haben zwischen der eigenen Position und Befindlichkeit und einer angemessenen Reaktion. Das beinhaltet, dass ich zunächst meine eigenen Gedanken realisiere und meine Gefühle reguliere, bevor ich blindlings zurückschlage. Es geht also darum, zu einer Reaktion zu kommen, die sowohl mir selbst gerecht wird, wie auch der anderen Person und der jeweiligen Situation. Wenn es mir gelingt, auf eine Art zu reagieren, die allen Beteiligten nutzt, dann ist es eine neutrale Reaktion ohne negative Konsequenzen. Dafür mag es nötig sein, auch einmal jemanden deutlich in die Schranken zu weisen oder mit der Faust auf den Tisch zu hauen, damit ich von meinem Gegenüber ernst genommen werde und wir miteinander die Situation so günstig wie möglich auflösen können. Bei anderen wiederum lässt man eventuell eine verbale Attacke durchlaufen und geht direkt einladend auf eine andere Gesprächsebene. Beides wären neutralisierende Verhaltensweisen, die ein hohes Maß an Selbstregulation und -steuerung erfordern. Letzteres lässt sich sehr gut durch achtsamkeitsorientierte Methoden trainieren, sofern, wie oben erwähnt, eine entsprechende Reflexion stattfindet.

 

Janina Bäder: Oh ja, das ist eine gute Frage. Wenn jemand im Supermarkt nicht achtsam ist, weil er die derzeit benötigten ein Meter fünfzig nicht einhält, ist das eine Sache. Aber wenn man wenig achtsam im Umgang mit Konflikten ist, oder allein, wenn man im Freundeskreis nur eine andere Meinung hat, geht es um die Frage, wie unser Kommunikationsverhalten ist. Höre ich dem anderen wirklich zu? Oder warte ich eigentlich nur, bis ich endlich wieder dran bin, um meine Position zu vertreten und zu verstärken? Oder versuche ich wirklich, mich in die Lage des anderen hineinzuversetzen? Bin ich bereit, meine eigene Meinung zu revidieren oder wenigstens ein bisschen anzupassen?

Hier geht es um die Achtsamkeit, die Meinung des anderen zu respektieren und auch gängige Verhaltensregeln einzuhalten. Sogenannte Ich-Botschaften, also „Ich denke…“, „Ich fühle…“ oder „Ich meine…“, sind dabei geeigneter als ständig zu urteilen: „Du bist so und so und so…“ Wir können die anderen nicht ändern. Ich kann den anderen nicht vorschreiben, was sie zu tun haben. Der einzige Mensch auf der Welt, den ich ändern kann, bin ich selbst. Wenn ich sehe, dass sich Menschen anders oder offensichtlich falsch verhalten, kommt es auf meine Reaktion an. Natürlich kann ich darauf hinweisen: Bitte machen Sie das nicht. Aber das ist nur eine kurze Intervention. Manchmal ist es klüger, wegzugehen, nicht jeden Kampf auszufechten. Da muss man abwägen: Regt es mich im Endeffekt mehr auf, mich in eine negative Energie hineinzubewegen oder sollte ich lieber sagen: Nein, da nehme ich lieber einen anderen Weg. Wir haben meist diese drei Möglichkeiten: Fight, flight or freeze.

Und da sind wir wieder bei der Achtsamkeit: Ich weiß ja nicht einmal, ob derjenige, den ich gerade maßregeln will, nicht gerade einen schlimmen Tag hat, ich kenne die Hintergründe nicht. Es erfordert auch Achtsamkeit, um abzuwägen, ob man dem nachgehen will oder ob man Dinge auch mal ruhen lässt. Es gibt dieses indianische Sprichwort, das in etwa besagt: Bewerte den anderen nicht, es sei denn, du bist einmal einen Monat lang in seinen Mokassins gegangen.

Manchmal ist es einfach klüger, in sich selbst nachzuspüren, was gegebenenfalls an Angst, Wut und Frustration in einem brodelt und was in manch einer Situation nur ein Ventil sucht, obwohl eine Konfrontation gar nicht notwendig ist. Ich kann da jedem nur empfehlen, gerade in Zeiten wie diesen, Zeit und Ruhe für sich selbst zu finden und wahrzunehmen: Was geht gerade in mir vor. Ein berühmter Mann, dessen Name mir leider gerade nicht einfällt, hat mal gesagt, man solle jeden Tag eine halbe Stunde meditieren. Außer man hat keine Zeit, dann eine Stunde! Ich selber praktiziere jeden Morgen Kundalini-Yoga und muss sagen, dass ich mich danach für den Tag besser gewappnet fühle, leicht, kraftvoll und frisch. Und damit fällt es mir wesentlich einfacher, achtsam zu sein und den Unebenheiten des Lebens zu begegnen.

 

Haben Sie trotz all der beschriebenen Szenarien die Hoffnung, dass wir als Gesellschaft – auch bei der Arbeit – bei dem Punkt Achtsamkeit positiv vorankommen und wenn ja, warum? Die Frage steht natürlich im Zusammenhang mit Frage 1, zielt jedoch darauf ab, wie der Trend für die Zukunft ist.

Ulrike Reiche: Yoga und Meditation werden in der westlichen Welt seit mehreren Jahrzehnten praktiziert, sie sind in der Breite der Gesellschaft angekommen und damit fest verankert. Ich glaube, dass diese Methoden und vor allem die lehrenden Personen künftig einen noch größeren Beitrag dazu liefern werden, dass mehr Menschen als bisher ein Bewusstsein für überregionale Zusammenhänge in Wirtschaft und Gesellschaft entwickeln. Schon heute sind in der Yoga- und Meditations-Community Aktionen weit verbreitet, z.B. zeitgleich auf globaler Ebene gemeinsam zu meditieren. Ich denke, dass diese Angebote noch mehr Bedeutung erhalten und Zulauf bekommen werden.

Auch wenn die fernöstlichen Methoden zunächst den Fokus auf das Individuum lenken, so schärfen diese Praktiken doch das Bewusstsein für die Verbundenheit mit anderen Menschen und das Eingebundensein in die Natur. Ich rechne damit, dass diese Aspekte in Wirtschaft und Gesellschaft sowohl durch die Pandemie und ihre Auswirkungen, aber auch durch die Digitalisierung und die damit einhergehende globale Vernetzung eine noch größer Bedeutung erhalten werden.

 

Janina Bäder: Es wird sehr interessant sein, zu beobachten, wie die Masse jetzt speziell nach der Krise und dem Lockdown reagieren wird. Gibt es ein Umdenken? Wie viele Menschen haben während des Zuhause Herumsitzens realisiert, was sie wirklich brauchen und was nicht? Vielleicht wäre es sogar nützlich, wenn der Lockdown noch weiter anhielte. Wenn Sie eine Meditation machen, 31 Minuten, 62 Minuten oder länger, ist am Anfang alles neu und interessant, irgendwann ist man „drin“ und dann wird man innerlich ein bisschen quengelig und genervt, je länger die Meditation dauert. Doch wenn man über diesen Punkt herüber ist, wenn man angenommen hat, was gerade passiert, dann kommt ein Gefühl auf, dass man im Fluss ist. Und dann ist es auch egal, wie lange die Meditation dauert, und danach stellt sich ein Ruhegefühl ein.

Wenn man die Menschen – wieder auf den Lockdown bezogen – jetzt aber wieder hinauslässt, wo sie gerade genervt sind, geht vermutlich alles schnell weiter wie vorher und die Chance, achtsamer zu werden, ist dahin. Wenn alle aber noch ein wenig ausharren und kreativ werden und merken, was sie eigentlich grundsätzlich anders machen könnten, und erkennen, dass es bereits eine ganze Menge „Fülle“ gibt, dass man vieles andere, den Konsum, die Ablenkung gar nicht benötigt.

Genauso kann und sollte der jetzige Zustand dazu führen, dass wir achtsamer mit Dingen umgehen. Dass wir honorieren, was wir haben, es nicht, wie vielleicht vorher, allzu schnell wegwerfen, sondern besser pflegen. Selbiges gilt für die Zeit: Bin ich bisher mit meiner Zeit achtsam umgegangen? Welche Dinge habe ich gemacht, die mich Zeit gekostet haben, die ich aber gar nicht machen wollte?

Ich glaube auch, dass es bei vielen den Effekt haben kann, dass sie keine Angst mehr vor den Fragen haben, die hochkommen, wenn es still und leise wird. Entweder man hatte die Zeit, sie zu bearbeiten oder weiß zumindest, wie man mit ihnen umgeht.

Ich würde mir auch wünschen, dass die ganzen Medien, statt immer nur über Corona zu berichten, etwas mehr auf Themen wie Achtsamkeit und Meditation eingehen würden und den Leuten etwas Handwerkszeug mitgeben, wie sie die Krise positiv gestalten und bewältigen können. Und das heißt nicht, den Menschen zu raten: Kauft euch Schutzmasken und Klopapier und dann ist alles gut. Ich fürchte, die Masse braucht da wirklich eine Art Anleitung. Und vielleicht kann man diese so entdeckte Achtsamkeit auch in den später wieder losgehenden Arbeitsalltag hinüberretten. Das würde ich mir wünschen, bin aber etwas skeptisch, dass es so kommen wird.